visite ma tente
E.M.C. Collard & Irene Hardjanegara & X & X & Ihr?
Spielrunden: visite ma tente ist ein künstlerisches Spiel, das zu dritt, aber noch besser mit mehr Personen gespielt werden kann. Das Spiel macht am meisten Spaß, wenn man sich auf verschiedene Arten der Kommunikation einlassen möchte – sei es durch Worte und Geschichten, Bilder oder Gegenstände, Räume oder Klänge.
Runde 1: Das Spiel beginnt, indem Spieler*in „A“ Spieler*in „B“ in sein*ihr „Zelt“ einlädt. Das Zelt ist nichts anderes als ein Kontext, den A durch die Produktion oder Zusammenstellung einer Gruppe von Kunstwerken geschaffen hat. Der Ort, an dem das „Zelt“ aufgeschlagen wird, kann frei gewählt werden, z. B. kann eine Kunstinstitution eine metaphorische freundliche Wiese bieten. Am besten ist es, wenn A einen Ort wählt, zu dem er*sie eine starke Verbindung hat, denn so können auch Gefühle und Gedanken über diesen Ort in das Spiel einfließen.
Gemeinsam mit dem kuratorischen Team der „freundlichen Wiese“/Kunstinstitution kuratiert A die Arbeiten/Ideen von B in seinem*ihrem „Zelt“, woraus sich eine Kunstausstellung ergibt. A und das kuratorische Team haben freie Hand, was das Werk von B angeht: Sie könnten es sogar in ein anderes Medium übersetzen. Allerdings zielt das Spiel eher auf die Gegenüberstellung von Ideen ab als auf die Schaffung eines einzigen, gemeinsamen Kunstwerks, in dem die einzelnen Positionen nicht mehr erkennbar sind.
Runde 2: Nach dem Ende der Ausstellung setzen das „Zelt“ und sein(e) Inhalt(e) ihre Reise zum nächsten freundlichen Ort fort, an dem C, ein*e weiterer*e Künstler*in hinzukommt (an dieser Stelle sei noch erwähnt, dass jeder Mitspieler auch durch eine Künstler*innengruppe gespielt werden kann). C und das kuratorische Team dieser zweiten freundlichen Spielwiese haben an dieser Stelle freie Hand, wie der bisherige Inhalt des Zeltes mit ihrer Ergänzung an der nächsten Station kuratiert wird.
Runde 3, usw.: An jedem neuen Ort kommen ein*e neue*r Künstler*in/eine neue Gruppe Kunstschaffender und ein neues Kuratorium hinzu, und der Inhalt der Ausstellung wird in neue Hände gelegt. Das Spiel muss mindestens 3 Runden lang gespielt werden. Als zusätzliches Bonus-Feature kann B, der*die bis zu diesem Zeitpunkt immer nur Eingeladene*r und nie Gastgeber*in war, die letzte Veranstaltung in der Kette kuratieren und seine*ihre Erfahrungen zu der im Laufe des Spiels zurückgelegten Reise in die letzte Ausstellung miteinbringen.
Das Ziel des Spiels: Sich selbst und seine künstlerische oder kuratorische Arbeit einem ergebnisoffenen Prozess zu öffnen, um neue Bedeutungen und Ideen entstehen zu lassen.
Nebeneffekt: In einem Zelt zu Gast zu sein, bedeutet, sich bzw. seine Arbeit in die Hände anderer zu legen. Die Kunstschaffenden, die zuvor „Gastgeber“ waren, werden in der nächsten Runde des Spiels selbst zu Gästen und erleben sich in der gleichen Position wie ihre vorherigen Gäste. Auf diese Weise verdeutlicht das Spiel, dass Gastfreundschaft sowohl eine Freiheit als auch eine Verantwortung ist. Die Zusammenarbeit beim Kuratieren der Ausstellungen ermöglicht den Künstler*innen und Kurator*innen einen umfassenden Einblick in die Arbeitsweise des*r jeweils anderen und in ihre Gedanken zu den Werken der teilnehmenden Kunstschaffenden.
Lesen Sie im Folgenden, wie wir auf die Idee für ein Kunstspiel gekommen sind, das Menschen zusammenbringen soll – und was wir mit der Einladung zum Mitspielen zu erreichen hoffen.
Wie es anfing: Bei einem Spaziergang durch die Nachbarschaft in Frankfurt am Main Anfang 2023 sprachen wir – das heißt: Irene Hardjanegara und E. M. C. Collard – über die Entstehung von Wörtern und darüber, wie sich Bedeutungen im Laufe der Zeit und durch die Migration zwischen Sprachen verändern. Dieses Gespräch brachte uns auf die Idee für eine Ausstellungsreihe mit Spielcharakter.
Sprache ist lebendig und wandelbar, und Wörter können unterschiedliche Bedeutungen annehmen, wenn sie von einem sprachlichen Kontext in einen anderen wandern: Während viele Wörter tief in den alten Sprachen verwurzelt sind und schon vor langer Zeit in den Gebrauch gelangten, aus dem später unsere modernen Sprachen hervorgingen, haben andere erst vor kurzem den Kontext gewechselt und tun dies auch heute noch. In unserem mediengesteuerten Zeitalter findet der Kontextwechsel auch bei (bewegten) Bildern statt: man kann so z. B. eine Parallele zwischen unserem Spiel und (TikTok-) Reaction Memes ziehen, nur dass in unserem Fall der Austausch im realen Leben und nicht online stattfindet, wobei die Kunstwerke in der Ausstellung neue Lesarten oder Assoziationen erhalten, wenn sie neuen Ideen gegenübergestellt oder auf neue Weise kuratiert werden.
Mit einem seltsamen deutschen Wort:
Der Titel unseres Spiels lehnt sich an die Geschichten rund um die Etymologie eines berühmt merkwürdigen deutschen Wortes an, des plurale tantum Fisimatenten. Ausgesprochen fɪzɪmaˈtɛntən und oft in Anlehnung an das Wort ‚fies‘ als „Fiese Matenten“ falschgeschrieben, bezeichnet der umgangssprachliche Begriff in seinem heutigen Gebrauch Unfug, Streiche, Gaunereien. Die plurale tantum Form wird verwendet, wenn zwei oder mehr Dinge als Paar oder Gruppe fungieren, oder für Ansammlungen, die nicht im Singular denkbar sind. Beispiele für plurale tantum sind die Wörter Eltern, Memoiren, Ferien, Gezeiten, Masern, Unkosten… Wir fragten uns: Gab es einen besonderen Aspekt von Fisimatenten, der es erforderlich machte, dass sie von mehreren Personen ausgeführt werden oder mehrere Personen an ihnen beteiligt sind? Oder ist es so, dass auf eine Fisimatente immer eine Reihe von weiteren folgt?
Dem Begriff Fisimatenten wird oft eine „unklare Herkunft“ bescheinigt: Es gibt eine alte Geschichte von jungen deutschen Mädchen, die zur Zeit der Napoleonischen Kriege oder vielleicht schon früher von französischen Soldaten gefragt wurden, ob sie gerne „visite/z ma tente“ (dt.: mein Zelt besuchen) würden, um dann später bei einer Kontrolle zu erklären, dass sie „visiter ma tante“ (dt.: meine Tante besucht) hätten. Nach dieser Erzählung soll das deutsche Wort Fisimatenten lautmalerisch aus diesen Sätzen abgeleitet worden sein, als die Eltern der jungen Mädchen verzweifelt ausriefen: „Mach keine Fisimatenten!“
Die Etymologie führt den Begriff jedoch auf den mittelalterlichen lateinischen Begriff visae patentes zurück, der offene Briefe bezeichnete, welche von Herrschern ausgestellt wurden, um z. B. Konzessionen zu erteilen, Reisen in verschiedene Lehensgebiete zu ermöglichen und ähnliches. Die Nutzung des Begriffs soll sich über die „überflüssige Schwierigkeit“ lustig gemacht haben, die mit der bürokratischen Beschaffung solcher Papiere verbunden war, und wurde möglicherweise im allgemeinen Sprachgebrauch mit einem zweiten Wort gekreuzt: dem mittelhochdeutschen visamente, das heraldische Verzierungen meinte, die von vielen wahrscheinlich als „überflüssige Ausschmückungen“ angesehen wurden.
Über Geschichten nachdenken:
Die vielschichtigen Geschichten, die sich um dieses Wort ranken, beeindruckten uns. Besonders die über die Soldaten, die jungen Mädchen und deren Eltern – obwohl was die Wortherkunft betrifft von keinem hohen Wahrheitsgehalt – fesselte uns. Sie brachte uns zum Nachdenken darüber, wer eingeladen wird, wie man an einem fremden Ort (und sogar trotz nationaler Konflikte) Verbindungen herstellt, wer entscheidet, wie man seine körperliche Autonomie ausüben darf. Wir sprachen über Grenzen zwischen Ländern, psychologische und soziale Grenzen. Und über die Dinge, die wir außerhalb der Sprache teilen. Die Einladung in dieser Geschichte blieb auch hängen: „Besuche mein Zelt“. Lass uns zusammen Unfug bauen. Oder eine Kissenburg.
Die amtlichen Briefe, die man früher für die Ausübung seiner Tätigkeit benötigte, erinnerten uns an Reisepässe, und wir dachten daran, wie während der Pandemie unsere sonst offenen europäischen Grenzen wieder geschlossen wurden und Angelegenheiten auf einer oft sehr lokalen Ebene entschieden wurden. Wir hatten das Gefühl, dass wir nun, da diese schwierige Zeit vorbei war, stärkere Verbindungen zu Kunstszenen aufbauen wollten, die etwas weiter weg waren. Und die Idee für unser Spiel begann zu wachsen.
Nachdem wir uns auf den Namen geeinigt hatten, befassten wir uns mit dem Zelt als Objekt. Ein Zelt kann vieles sein: In seiner einfachsten und ursprünglichsten Form ist es ein Stück Stoff, das über einige Holzbalken gespannt ist (ein bisschen wie eine Malerleinwand!). Aber heutzutage kann ein Zelt alles sein, vom Bierzelt auf dem Oktoberfest bis zum Hightech-Sportgerät, das man auf dem Weg zum Mount Everest aufstellt. Wenn man sich mit einer Lampe im Zelt befindet, erleben die Außenstehenden ein Schattentheater – das Zelt bietet eine Membran, die Regen und Getier abhält, aber immer noch genug Luft zum Atmen durchlässt.
Als wir die Regeln für das Spiel visite ma tente schrieben (siehe Anfang dieses Texts), dachten wir über das Zelt im abstrakten Sinn nach: als einen nicht statischen Kontext, der in der Lage ist, eine Vielzahl von Menschen zu beherbergen und eine vorübergehende Unterkunft zu bieten (und möglicherweise auch Unterhaltung beinhaltet). Wir betrachteten die plurale tantum-Form als Hinweis auf eine Aktivität, die auf einer gewissen Ebene die Teilnahme von mehr als einer Partei signalisiert.
Wir wollten, dass die Spielregeln relativ offengehalten waren, weil uns die Idee gefiel, dass sich das Format zu etwas entwickelt, das andere Künstler*innen (was natürlich spätestens seit Joseph Beuys jede Person einschließt, die sich als solchen sehen möchte) und Kurator*innen nutzen, und mit dem sie spielen könnten.
Nebenbei erwähnt: Wir hatten das Gefühl, dass eine formale Anrede mehr Distanz aufbaut, und da wir an Nähe, der Überbrückung von Unterschieden und persönlichen Überlebenstaktiken interessiert sind, haben wir uns für die weniger formale Variante des französischen Satzes als Spiel-/Ausstellungstitel entschieden. Wer Fan der korrekten Etikette ist, kann gerne auch „visitez ma tente“ spielen.
Let’s play:
Die erste Runde des ersten Spiels von visite ma tente wurde im Dezember/Januar 2023 in der Städtischen Galerie im Park in Viersen in Deutschland gespielt. Dazu hat Irene Hardjanegara E. M. C. Collard in die Stadt eingeladen, in der sie aufgewachsen ist, und hat E. M. C.s Werk in Zusammenarbeit mit Jutta Pitzen, der Leiterin der Städtischen Galerie im Park, und ihrem Team kuratiert. Als roten Faden für unser Spiel visite ma tente haben wir ein gemeinsames Thema gefunden, das sowohl Irenes als auch E. M. C.s Praxis vorantreibt, nämlich wie physische und psychische Grenzen und Begrenzungen und unsere Gedanken über unser Inneres und Äußeres als Menschen in einem Kunstwerk hinterfragt werden können. Von Viersen aus wollen wir sehen, wie viele Runden unser Spiel gehen kann, und suchen dafür noch Mitstreiter.
Da das Spielprinzip vorsieht, verschiedene Ideen gegenüberzustellen und Gespräche in Gang zu setzen, hoffen wir, dass das Projekt zu einem lebendigen Austausch beiträgt und ein Archiv für künstlerische Betrachtungen über körperliche und psychologische Grenzen, Vorstellungen von Schutz, Innen- oder Außensein und mehr bietet. Wir stellen uns vor, dass Künstler oder Kuratoren, die sich mit dem Konzept auseinandersetzen, die angesprochenen Konzepte auf ähnlich assoziative Weise betrachten könnten. Oder auf eine Art und Weise, an die wir noch nicht gedacht haben: Wir sind für alle Vorschläge offen!
Während wir hoffentlich auch zum Spielen in persönlicheren Umgebungen anregen, soll die Spiel-als-Ausstellungsreihe im ersten Zyklus in Kunstinstitutionen stattfinden. Was wir schaffen wollen, ist einen Freiraum für Offenheit und Partizipation, der zum Nachdenken und Austausch anregt. Wir hoffen, dass im Laufe der Ausstellungsreihe andere Ansichten über das Zelt, den Körper und verwandte Themen hinzukommen und das Projekt bereichern werden, von dem wir hoffen, dass es eine anregende Erfahrung für die Teilnehmer sein wird – zu denen für uns auch eine Gruppe gehört, die wir sonst als „die Betrachter“ bezeichnen.
Herzliche Grüße,
Emily ‘E. M. C.’ Collard & Irene Hardjanegara
+++ Diese Anleitung für das Spiel visite ma tente kann von jedem kopiert und umgesetzt werden, der sich dazu berufen fühlt. Wir würden uns freuen, wenn Ihr Eure Erfahrungen mit uns teilt!+++